Ende Oktober soll das Lager geschlossen werden, heißt es. Zur Zeit werden einzelne der Jugendlichen in die Lindenstraße in Vegesack geschickt, eine von der AWO betriebene Erstaufnahmeeinrichtung. Die Parole »Shut down Gottlieb-Daimler-Straße« ist jedoch mit viel grundlegenderen Forderungen verbunden: Es geht um das Recht auf ein Leben in Würde, um das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, um das Recht auf Bildung, kurz: um eine langfristige und sichere Perspektive hier in Bremen. Allem voran brauchen die Jugendlichen endlich ein stabiles Zuhause, denn nur so kann es überhaupt gelingen, dass seelische Wunden vielleicht eines Tages heilen. Die meisten der Gottlieb-Daimler-People haben mit etwa 14, 15 oder 16 Jahren ihr vertrautes Umfeld verlassen, um sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa zu machen. Sie mussten Wüstengebiete und andere gefährliche Wege passieren. Wer es bis Libyen schaffte, blickte dort in den tiefsten Abgrund.
»Jeden Tag starben Menschen«
So fasst einer der Jugendlichen die schwer zu beschreibenden Erlebnisse zusammen. Zwangsarbeit und Freiheitsberaubung, (sexualisierte) Gewalt und Ausbeutung sind zu einem grausamen System geworden, in dem sich die Menschen auf der Flucht dort wiederfinden. Diese Erfahrungen liegen nun viele Monate zurück.
Jeder einzelne der Jugendlichen wurde zum Überlebensexperten, spricht Straßenarabisch und Italienisch und gelangte irgendwie nach Bremen, in der Hoffnung endlich anzukommen. Doch genau das wird ihnen hier verwehrt. »Wir sind nicht hier und nicht da«, wie einer der Bewohner es nennt. Es ist das Gefühl, sich in einer Zwischenzone zu befinden, es ist die Erfahrung, keinen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe zu bekommen, oder, wie es ein anderer der Jugendlichen beschreibt: »Unser einziges Verbrechen ist, dass wir hier sind. Wir bestehen auf unser eigenes Alter und wollen das erfundene Geburtsdatum, das sie uns geben, nicht haben. Dafür bestrafen sie uns.« Die meisten der Gottlieb-Daimler-People haben Widerspruch gegen das von der Sozialbehörde für sie festgesetzte, fiktive Geburtsdatum eingelegt. Diese Verfahren dauern häufig viele Monate.
»Verlorene Zeit«, nennen es viele Betroffene, denn in dieser Zeit haben sie keine Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Leistungen für Minderjährige: ihnen wird der Schulbesuch verwehrt, sie bekommen keine altersgerechte Betreuung und sie sind faktisch in die Perspektivlosigkeit verbannt. Die Sozialbehörde schikaniert im Zusammenspiel mit der Innenbehörde die Jugendlichen mit allen Mitteln. Diese Behörden denken sich immer neue Tricks und »Anweisungen« aus, um den Betroffenen ihre Rechte abzusprechen. Die Sozialbehörde versucht sogar, die Jugendlichen, die ihre Gerichtsverfahren gewonnen haben und demzufolge als Minderjährige behandelt werden müssen, aktiv von ihrem Recht auf Schulbesuch fernzuhalten. Das Migrationsamt stellt den Jugendlichen, obwohl sie seit vielen Monaten in Bremen untergebracht und damit faktisch geduldet sind, nicht einmal ein Duldungspapier aus. Die Innenbehörde tut also einfach so, als sei sie für die Jugendlichen, die sich seit vielen Monaten hier regulär aufhalten, aufenthaltsrechtlich nicht zuständig. Das ist absurd!
Viele der Jugendlichen sind deshalb, obwohl sie mitunter schon fast ein Jahr in Bremen leben, noch von Transfers in andere Bundesländer bedroht, unter Verlust von allem, was sie sich – trotz der widrigen Bedingungen – hier aufgebaut haben. Die psychische Verfassung vieler Jugendlicher ist äußerst schlecht, viele benötigen traumatherapeutische Unterstützung. Jeder weitere Tag der Ungewissheit vergrößert die Angst und die Hoffnungslosigkeit. Die Rechnung der Behörden geht jedoch nicht auf. Was wir in den letzten Monaten gemeinsam aufgebaut haben, ist unser Solidaritätsbündnis. Obwohl die Jugendlichen mittlerweile an verschiedenen Orten leben, ist weder der Zusammenhalt noch die Unterstützung geringer geworden. Wir, die Gottlieb-Daimler-People und andere Bremer*innen haben uns angefreundet, indem wir einander zuhören, stundenlang, diskutieren, unsere Sprachen einander übersetzen, voneinander lernen, zusammen kochen und essen.
Wir demonstrieren, wir organisieren Kundgebungen, wir haben uns 24 Stunden lang auf dem Marktplatz vor der Bürgerschaft mit unseren Forderungen Gehör und Sichtbarkeit verschafft.
»Wir akzeptieren die Zustände im Lager Gottlieb-Daimler-Straße keinen Tag länger! Die Umverteilung in das Sammellager Lindenstraße ist keine Lösung, sondern nur eine Verlagerung des Problems! Wir wollen in die Jugendhilfe – dort gehören wir hin! Wir wollen in die Schule – dort gehören wir hin! Wir haben auch nach so langer Zeit in Bremen keine Anerkennung unseres Alters und keine Papiere bekommen. Wir werden von den Behörden mit immer neuen Tricks schikaniert. Wir bekommen unsere Rechte nicht. Deshalb sagen wir: We want legal papers now! We are Bremen and we are here to stay!«
Wir rufen alle Bremer*innen auf, sich den Protesten der Überlebenden der Mittelmeerüberquerung anzuschließen und diese, wo es nur geht, zu unterstützen! Zeigen wir, dass in Bremen absolute Nulltoleranz besteht für eine europäische Migrationspolitik, die Flucht und Seenotrettung kriminalisiert! Privilegien und Reichtum wurden nicht durch Naturgesetze ungleich verteilt. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde. Es ist Zeit, sich zu entscheiden. Es geht nicht um bloße Anteilnahme am Schicksal von Betroffenen – es geht darum, das gemeinsame Anliegen zu erkennen: der immer massiveren Ausgrenzung in unserer Gesellschaft etwas entgegen zu setzen. Die Verrohung zu stoppen, wie sie in der Behauptung liegt, die im Mittelmeer Ertrinkenden seien selbst schuld. Es geht darum, die rassistische Lücke zu schließen und all dem etwas Solidarisches, Gerechtes und Menschliches entgegenzusetzen.
Jetzt und hier – denn es ist unsere Stadt!
Solidaritätsbündnis »Shut Down Gottlieb-Daimler-Straße«, Juli 2018
Das Bündnis benötigt dringend Geldspenden und Wohnraum.
Kontakt: shut-down-gottlieb-daimler[at]free-migration.org