OVG Bremen: Altersfestsetzungsverfahren gegenüber jungen Geflüchteten ist menschenrechtswidrig

Schnelle ablehnende Entscheidungen, kein wirksamer Rechtsschutz – Dieses alltägliche Vorgehen des Bremer Jugendamtes gegen unbegleitete Minderjährige ist menschenrechtswidrig. Das ergibt sich aus einem aktuellen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen. Bremens Vorgehen genügt nicht den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Während der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten wird noch kein Vormund bestallt. Die Minderjährigen sind in dieser Zeit ohne rechtliche Vertretung. Das ist besonders problematisch, da in kurzer Zeit existenziell wichtige Entscheidungen getroffen werden, die die Jugendlichen allein kaum einschätzen oder überblicken können. Es geht um fiktive Änderungen des Alters, die das Jugendamt regelmäßig vornimmt. Auch in anderen Fragen sind die Betroffenen restriktiven Maßnahmen des Jugendamtes schutzlos ausgeliefert. So hatte das Jugendamt acht Jahre lang tausenden Jugendlichen zu wenig Taschengeld ausgezahlt und die Verteilungspraxis der Behörde wird gegen zahlreiche Proteste und schwerwiegende fachliche Bedenken rechtswidrig mit Gewalt durchgesetzt.

Statt einer Vormundschaft soll während der vorläufigen Inobhutnahme eine rechtliche Notvertretung durch das Jugendamt geleistet werden. Das Jugendamt müsste also im Zweifelsfall gegen die eigenen Entscheidungen Widerspruch einlegen oder klagen. Um diesen Interessenkonflikt abzumildern, soll die Notvertretung von einer anderen Abteilung des Jugendamtes, der Amtsvormundschaft, wahrgenommen werden. Die Amtsvormundschaft wird aber in den meisten Fällen nicht einmal informiert.

Das OVG Bremen ließ sich vom Sozialressort über diese Praxis informieren und kommt zu dem Schluss, dass eine „gebührende Beachtung der durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen nicht gesichert“ ist: „…zur Wahrung der Verfahrensrechte aus Art. 8 EMRK [muss] hinzukommen, dass die Notvertretung nicht nur auf dem Papier besteht, sondern von dem Fachdienst des Jugendamtes, der für die Altersfeststellung zuständig ist, so informiert wird, dass sie auch tatsächlich die Möglichkeit hat, sich am Altersfeststellungsverfahren zu beteiligen. Denn die EMRK will nach ständiger Rechtsprechung des EGMR nicht lediglich theoretische, sondern praktisch effektive Rechte schützen.“ (Beschluss des OVG Bremen OVG: 2 B 330/23 vom 15.04.2024.) Im konkreten Fall lehnte das OVG eine Beschwerde dennoch ab, weil es den Rechtsschutz im anschließenden Widerspruchsverfahren nachgeholt sah.
„Die Feststellung des Gerichts, dass das Altersfeststellungsverfahren nicht den menschenrechtlichen Mindestanforderungen der EMRK genügt, trifft jedoch auf hunderte schutzbedürftige Minderjährige zu, die es nicht bis in ein Widerspruchsverfahren schaffen“, weist H. Dieckmann für den Flüchtlingsrat Bremen auf die praktische Bedeutung des Gerichtsbeschluss‘ hin; „Junge Geflüchtete haben in Bremen keinen wirksamen Rechtsschutz gegen folgenschwere Ablehnungsentscheidungen des Jugendamtes“. Eine Anfrage des Flüchtlingsrates zur Wahrnehmung der rechtlichen Notvertretung wollte das Amt im Februar wegen des Verwaltungsaufwands nicht beantworten.
Das Jugendressort muss seine durchgehend rechtswidrige Praxis nun umgehend abändern und wirksamen Rechtsschutz für minderjährigen Geflüchtete gewähren, fordert der Flüchtlingsrat.