Offener Brief des Flüchtlingsrats an die Sozialsenatorin

Bremen, 26.04.2020

Guten Tag Frau Stahmann!

Seit Beginn der Corona-Pandemie haben Sie die berechtigten Anliegen und Interessen der Bewohner*innen der Lindenstraße oder deren formulierte Kritik wahlweise verschwiegen, kleingeredet, als unsachlich delegitimiert oder offen abgestritten. All dies verwundert wenig, denn es sind die bekannten Mittel der Macht, sich solcherart über die Bedürfnisse und die Kritik derjenigen hinwegzusetzen, über die sie diese Macht ausübt.

Ihre öffentlichen Äußerungen vom 23.04.20 haben jedoch auch dieses Maß noch überschritten.

Nachdem Sie die unfassbar hohe Zahl von zunächst 120 Infektionen – entstanden durch Ihr Nicht-Handeln – verkünden mussten, haben Sie der Öffentlichkeit außerdem mitgeteilt, alle Bewohner*innen der Lindenstraße seien „symptomfrei“, es seien durchweg „milde Verläufe“, manche seien halt „büschen doller verschnupft“.

Diese öffentlichen Äußerungen erfüllten die Funktion der (Selbst-)Beruhigung und waren damit verantwortungslos. Zudem waren sie sachlich schlicht falsch: Es befanden sich seit dem Abend des 22.04. bereits zwei Personen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden, im Krankenhaus. Stand heute (26.04.) befinden sich mittlerweile drei Personen aus der Lindenstraße in stationärer Behandlung und kämpfen gegen das Virus.

Nicht zu vergessen, Frau Stahmann: Sie haben auch gar nicht die Einwilligung der von Ihrer Politik Betroffenen, zu Ihrer eigenen Beruhigung Einschätzungen zu deren Gesundheitszustand zu verbreiten. „Informationen“ über den „Verlauf“ von 120 Covid-19-Infektionen besitzen außerdem, vorsichtig ausgedrückt, eine Halbwertszeit von wenigen Minuten.

Wir fragen Sie:

  • Über welche bisher unbekannten medizinischen Erkenntnisse und Kompetenzen verfügen Sie, dass Sie wenige Stunden nach Bekanntwerden einer Infektionsrate von über 32%, meinen beurteilen zu können, wie „milde“ die Krankheitsverläufe sind?
  • Mit wie vielen der 120 nachgewiesen infizierten Personen haben Sie bei Ihrem erstmaligen Besuch in der Lindenstraße am 22.04. persönlich gesprochen? Wie vielen der Bewohner*innen haben Sie die Gelegenheit gegeben, Ihnen persönlich, ausführlich und eigeninitiativ zu erzählen, wie sie sich fühlen, welche Sorgen, Bedürfnisse und Kritik sie haben?
  • Haben Sie sich den Bewohner*innen der Lindenstraße bei Ihrem kurzen Besuch dort überhaupt offen als verantwortliche Senatorin zu erkennen gegeben?

Wir wollen nicht verschweigen: wir kennen einige Antworten bereits. Keine der vielen Bewohner*innen, mit denen wir seit Wochen im Kontakt stehen, wusste, wer Sie sind oder konnte Ihren „Besuch“ einschätzen. Eine uns bekannte Person hat Sie als Journalistin wahrgenommen und Ihnen angeboten, Ihnen von den unerträglichen Zuständen in der Lindenstraße zu erzählen. Sie haben sie abgewimmelt und ihr geantwortet, Sie kämen später zu ihrem Zimmer. Sie hat dort auf Sie gewartet – selbstverständlich sind Sie nicht gekommen.

So weit, so schlecht. Doch damit nicht genug.

Absolut nicht hinnehmbar und ungeheuerlich ist, Frau Stahmann, dass Sie der Öffentlichkeit am 22.04. außerdem ungefragt mitgeteilt haben: „Über die vielen Infizierten war ich erst mal erschrocken. Jetzt bin ich erleichtert“. Allen Infizierten ginge es gut, dieser milde Verlauf könne so ein neues Lagebild von der Coronaerkrankung zeichnen: „Für Virologen ist das interessant.“

Wir fragen Sie:

  • Über welche bisher unbekannten virologischen Erkenntnisse und Kompetenzen verfügen Sie, dass Sie glauben, dies zu beurteilen und öffentlich verkünden zu können?
  • Mit welchen Virolog*innen waren Sie seit Beginn der Corona-Pandemie über die besondere Situation der Lindenstraße und anderen Massenunterkünften im persönlich-fachlichen Gespräch? Mit welchem Ergebnis?

Vor allem aber stellen wir fest:
Ihre hanebüchene Behauptung, das „Lagebild“ in der Lindenstraße sei für Virologen interessant, ist eine rassistische Aussage. Warum?

  • Weil Sie nicht eingestehen, dass die hohe Zahl an Infektionen gefährlich und nur mit der von Ihnen erzwungenen Enge zu erklären ist, sondern Sie die Menschen, die dort leben müssen, zu „interessanten“ Forschungsobjekten erklären.
  • Weil Sie die Menschen, die in der Lindenstraße leben müssen, mit einem hingeworfenen Satz zu Gegenständen eines von Ihnen herbei halluzinierten Forschungs- und Datensammlungsinteresses machen.
  • Weil Sie die Menschen in der Lindenstraße öffentlich zu Objekten Ihrer eigenen Entlastung und der Beruhigung derjenigen, die Ihnen so gerne glauben möchten, degradieren.
  • Weil in Ihrer Aussage nicht die berechtigten Ängste der infizierten Personen und deren Bedürfnisse als individuelle Subjekte im Mittelpunkt stehen.
  • Weil Sie stattdessen diese Menschen als eine durch das Virus homogenisierte Gruppe konstruieren und sie dann zu Objekten in einem „Lagebild“ von – von Ihnen selbst behaupteten – wissenschaftlichem Interesse machen.

So werden Menschen sprachlich ent-individualisiert, ihre ganz persönlichen Positionen und Bedürfnisse, ihr individuelles Sein negiert, einfach mal eben weggewischt – und zu Objekten eines vermeintlich Wichtigeren, „wissenschaftlich Interessanten“ herabgesetzt.

Rassismus, Frau Stahmann, kennt unendliche viele Ausdrucksformen. Ihre Aussage ist eine davon.

Wir fordern Sie daher auf:

  • Entschuldigen Sie sich öffentlich bei den Bewohner*innen der Lindenstraße für Ihre rassistische Äußerung!
  • Distanzieren Sie sich öffentlich von Ihren Behauptungen, die sachlich falsch, fachlich unüberprüft und inhaltlich rassistisch sind!
  • Hören Sie auf, sich selbst als Opfer zu inszenieren, sobald Ihnen Kritik an Ihrer Politik entgegengebracht wird!
  • Hören Sie auf, die physische und psychische Gesundheit von Menschen zu gefährden! Schließen Sie die Massenunterkünfte!

Flüchtlingsrat Bremen 26.04.2020

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