Zum Umgang mit Großunterkünften und zur Kritik daran
Wir, AWO-Mitarbeiter*innen aus Bremen, haben in den vergangenen Monaten aufmerksam die Berichterstattungen über die Situation in der EAE (Erstaufnahmeeinrichtung) Lindenstraße in Bremen Nord und die darauf bezogenen Stellungnahmen von unterschiedlichen Akteur*innen verfolgt. Da die AWO den Betreuungsauftrag für die Erstaufnahme innehat, möchten wir uns gerne in unserer Rolle als AWO-Mitarbeiter*innen positionieren. Wir beziehen uns dabei auf den veröffentlichten Faktencheck der AWO Bremen (auf deren Webseite) und dem Grundsatzprogramm der AWO Bundesverband.
Grundlegend ist uns dabei wichtig, die Proteste und Kritik der Bewohner*innen der EAE Lindenstraße ernst zu nehmen und diese zu Wort kommen zu lassen. Ebenso wichtig ist es, die vielschichtige, herausfordernde Situation in der EAE differenziert zu betrachten. Eine generelle Auseinandersetzung zur Situation in Geflüchteten-Unterkünften halten wir auch über die Lindenstraße hinaus weiterhin für nötig.
Zur Problematik der Großunterkünfte nicht nur in Zeiten der Pandemie
Ist es grundsätzlich vertretbar 7 Menschen im Familienverbund in einem Zimmer unterzubringen1?. Auch die Ansteckung mit Covid-19 innerhalb der Familie kann minimiert werden, wenn Familienmitglieder mit Infektion voneinander isoliert untergebracht werden können. Es ist unabdingbar zu erwähnen, dass die Unterbringung in Großunterkünften grundlegend, und verschärft in Corona-Zeiten, Menschen in risikoreiche Situationen bringt. Wir vermissen an dieser Stelle eine Transparenz in der AWO, was derartige Unterkünfte betrifft: Wie beurteilt man diese Einrichtungen, wie sichert man Qualitätsstandards, und vor allem: wie kommt ein Entscheidungsprozess zustande, an dessen Ende die AWO beschließt, eine Unterkunft wie in der Lindenstraße – trotz möglicherweise vorhandener grundsätzlicher Kritikpunkte – zu betreiben?
Der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.2 und Solimed Bremen3 haben Einschätzungen zur Unterbringung von Geflüchteten in Zeiten von Covid-19 und (generelle) Kritik an dieser veröffentlicht. Auch der Bremer Zusammenschluss der Wach- und Sicherheitsbranche (Wasi) der Gewerkschaft Ver.di spricht sich für die Schließung der Lindenstraße aus. Die Wachdienste sehen sich als gemeinsam betroffen, da auch Mitarbeiter*innen vor Ort einem unnötigen Risiko ausgesetzt sind. Es gibt bislang keine Stellungnahme der AWO Bremen zu diesen kritischen Stimmen.
Als Menschen, die selbst in der AWO arbeiten, halten wir den Umgang der AWO mit Kritik von außen im Fall der Lindenstraße für ausgesprochen unglücklich. Unterschiedliche Kritikpunkte an der EAE gab es auch schon vor Corona. Spätestens mit Beginn der Pandemie hätte eine offensive Auseinandersetzung über die Unterbringung und zu möglichen Alternativen einsetzen müssen. Die Öffentlichkeitsarbeit der AWO hat hier Möglichkeiten des Dialogs ungenutzt gelassen und so ungewollt selbst mit zur Eskalation beigetragen.
Zum Umgang mit Rassismus(vorwürfen) und Kritik in der AWO
Den AWO-Mitarbeiter*innen in der EAE wurde von Bewohner*innen rassistisches Verhalten vorgeworfen. Unserer Meinung nach reicht es nicht, damit zu argumentieren, dass die Sozialarbeiter*innen seit Jahren aus Überzeugung in der Flüchtlingshilfe tätig sind4. Das allein ist kein Garant dafür, dass diese nicht auch (neben professioneller Arbeit) benachteiligend, verletzend und unfair handeln. Dies kann auch mit grundlegend unterstützender und motivierter Intention passieren. Rassismen ziehen sich schließlich durch alle Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen hindurch. Wie wird sichergestellt, dass es keine rassistischen Handlungen und Äußerungen von AWO-Mitarbeitenden in der Einrichtung (und generell in allen Einrichtungen der AWO) gibt, wie werden AWO-Mitarbeitende auf Rassismus (und andere Diskriminierungsformen) geschult und welche Maßnahmen tragen dazu bei? Seitens der AWO sind konkrete Handlungspraxen und Vorbeugungsmaßnahmen gegen diskriminierende Verhaltensweisen zu nennen. Im Grundsatzprogramm der AWO stehen unter „Einwanderungspolitik und Soziale Arbeit“5 wertvolle Handlungsgrundsätze, die wir befürworten. Uns ist der Anspruch, als sozialer Träger dafür zu sorgen, dass Rassismus entgegengewirkt wird, sehr wichtig. Eine Qualitätssicherung dieser Grundsätze muss garantiert werden, sonst handelt es sich nur um leere Worte.
Laut Leitbild möchte die AWO demokratisches Denken und Handeln fördern. Dazu gehört eine Partizipation, in der es möglich ist, Kritik, Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren. Um dies zu ermöglichen, ist auf allen Seiten immer wieder eine offene, differenzierte Auseinandersetzung mit Rassismus (und Rassismusvorwürfen) nötig, bloßes Leugnen oder Zurückweisen ist da nicht konstruktiv.
Wir wünschen uns von der AWO Bremen mehr Fähigkeit zur Selbstkritik. Dazu könnte das Eingeständnis gehören, dass eine sichere Unterbringung von in der Lindenstraße wohnenden Personen nicht gewährleistet werden konnte, mit der Folge, dass sich überdurchschnittlich viele Menschen mit dem Virus infiziert haben. Das ist natürlich nicht nur das Verschulden der AWO Bremen, sondern auch das des Sozialressorts, des Amtes für Soziale Dienste, des Gesundheitsamtes und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Aus unserer Perspektive als AWO-Mitarbeiter*innen möchten wir die Auseinandersetzungen mit den Defiziten, die wir bei der AWO sehen, als Anstoß zu einer nötigen Debatte in den Raum stellen. Nicht für alles allein verantwortlich zu sein, heißt nicht, keine Verantwortung zu übernehmen zu können.
Einige Mitarbeitende der AWO Bremen
1 Richtigstellung in Bezug auf die Behauptung, dass sich 10 Menschen ein Zimmer teilen (Faktencheck der AWO Bremen vom 20.04.20 auf deren Webseite)
2 Eine Online-Befragung hat ergeben, dass: „in Massen-Erstaufnahmen, in Sammelunterkünften oder in Wohngruppen für Geflüchtete – die Grundrechte der Bewohner*innen verletzt [werden] und Fachkräfte der Sozialen Arbeit derzeit bedingt durch die Corona-Krise an ihre Belastungsgrenze [kommen].“ (Artikel: „Infektionsgefahr und räumliche Enge: Online-Umfrage zeigt Sozialarbeiter*innen an der Belastungsgrenze“, 05.05.2020, von: Fachbereich Migration und Flucht im Funktionsbereich Inklusion)
3 Links zu den Stellungnahmen vom Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. und von Solimed
4 siehe Faktencheck der AWO Bremen vom 19.05.20
5 „Rassismus erkennen und bekämpfen. In unserer Einwanderungsgesellschaft muss jede Form von Feindlichkeit, Diskriminierung, Extremismus und Rassismus gegen Menschen und Gruppen bekämpft werden. Als Gesellschaft müssen wir uns mit ausgrenzenden Strukturen und Vorurteilen kritisch auseinandersetzen und diese überwinden. Anderenfalls wird hierdurch Rassismus befördert und verfestigt.“ (Das Grundsatzprogramm der Arbeiterwohlfahrt; beschlossen auf der Sonderkonferenz am 14.12.2019 in Berlin)