Kindeswohl für alle! Gemeinsame Stellungnahme für gute Bedingungen in der Jugendhilfe

Fluchtraum Bremen e. V., der Förderverein Flüchtlingsrat Bremen e. V. und der Bremer Jugendring – Landesarbeitsgemeinschaft der Bremer Jugendverbände e. V. sprechen sich für jugendgerechte Bedingungen in der vorläufigen Inobhutnahme und gegen diskriminierende und gefährdende Praxen der Unterbringung und Versorgung von Minderjährigen aus.

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (UN- Kinderrechtskonvention Art. 27). Da es sich hierbei um Kinder und Jugendliche handelt, die wegen ihrer Flucht, ihrer Erfahrungen vor der Flucht und ihrer unbegleiteten Einreise unter besonderem Schutz stehen (Art. 20, 22 UN-KRK), bedarf es insbesondere einer sicheren und wohnlichen Unterkunft. Wir berufen uns auch auf Art. 39 der UN-Kinderrechtskonvention, welcher Kindern und Jugendlichen, die Opfer eines bewaffneten Konflikts geworden sind, eine Genesung und Wiedereingliederung in einer der Gesundheit, Würde und Selbstachtung förderlichen Umgebung zuspricht. Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche müssen zudem in Deutschland im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe nach den gesetzlichen Regelungen des SGB VIII untergebracht werden.

Dass dies nicht per se gegeben ist, belegen Videoaufnahmen von Jugendlichen, die in Turnhallen wie dem „Airportlab“ untergebracht waren. Mit der Schließung von Massenunterkünften ist der Forderung nach angemessener Unterkunft und Lebensstandard nicht genüge getan. Eine „angemessene“ Unterbringung bedeutet wie auch in anderen Einrichtungen der Jugendhilfe mindestens saubere Räumlichkeiten, Möglichkeiten für Rückzug und Privatsphäre sowie kompetente sozialpädagogische und psychologische Betreuung, die bei traumaerfahrenen schutzsuchenden Minderjährigen in den meisten Fällen angezeigt ist. Konzepte und Finanzierungsmöglichkeiten müssen die Qualität der Arbeit und des Schutzes gewährleisten.1 Auch vor dem Hintergrund schwankender Zugangszahlen von jungen Schutzsuchenden müssen ausreichend räumliche und personelle Ressourcen bereitstehen.

Wir fordern die Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration Dr. Claudia Schilling auf, sich für dezentrale und den individuellen Bedürfnissen gerechte Unterkünfte und Betreuung der Jugendlichen in der vorläufigen Inobhutnahme einzusetzen.

Die Jugendämter Bremen und Bremerhaven haben von 2015 bis Ende Dezember 2023 allen Jugendlichen in Maßnahmen der vorübergehenden Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII rechtswidrig zu wenig Taschengeld gezahlt.

Minderjährige, die in Einrichtungen der Jugendhilfe leben, erhalten als Teil der Jugendhilfeleistungen einen Barbetrag zur persönlichen Verfügung, das „Taschengeld“. Das galt nicht für Kinder und Jugendliche in der vorläufigen Inobhutnahme, sondern nur für diejenigen in Einrichtungen der Jugendhilfe oder in der Inobhutnahme. Das Taschengeld (1,50€ pro Anspruchstag), das die Kinder und Jugendlichen in der vorläufigen Inobhutnahme erhielten, waren zum einen an Bedingungen geknüpft, wie Terminwahrnehmung und eine Wartezeit von 8 Tagen. Zum anderen war das Taschengeld nicht Teil der Jugendhilfeleistung, sondern orientierte sich unsachgemäß an den Sätzen des Asylbewerberleistungsgesetz von 2015 ohne jegliche Anpassung seitdem. Kaum Bargeld zur Verfügung zu haben, bedeutet eine erhebliche Einschränkung des Alltagslebens, der Entwicklungsmöglichkeiten und der Autonomie und stellt in diesem Falle eine faktische Diskriminierung der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten dar.

Zum 1.1.2024 kam das Sozialressort einer Forderung des Flüchtlingsrates nach und beendete diese Diskriminierung. Von behördlicher Seite wurden Signale gegeben, dass eine rückwirkende Auszahlung der Differenz zum rechtmäßigen Taschengeldbetrag vorgesehen sei (Protokoll vom 25.04.2024, Landesjugendhilfeausschuss). Über das Verfahren der Auszahlung durch das Amt für Soziale Dienste gibt es zum heutigen Zeitpunkt keine transparenten Informationen.

Wir fordern die Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration Dr. Claudia Schilling auf, die rückwirkende Auszahlung des Taschengeldes mithilfe von transparenten Verfahren proaktiv zu fördern.

Das Bremer Sozialressort hat per Verwaltungsanweisung von Januar 2020 angeordnet, dass minderjährige Geflüchtete zum Zwecke ihrer Umverteilung unter Anwendung von unmittelbarem Zwang an Händen und Füßen gefesselt werden, also mit Gewalt und gegen deren Willen an einen zuvor zugewiesenen Ort verbracht werden dürfen.

Die Anwendung und Androhung von Gewalt steht in direktem Widerspruch zur der Sicherung des Kindeswohls, da spätestens die Anwendung von Zwangsmitteln entsprechend dem Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. (G1/17, 2017) als Gefährdung des Kindeswohls zu verstehen ist. Dabei ist, neben dem Zwangsaspekt, auch schon die Herabsetzung und Missachtung des Willens der Betroffenen in Folge der ungewollten Umverteilung eine Verletzung der rechtlichen geschützten Berücksichtigung des Kindeswillens (Art. 3, Art. 12, Art. 19 UN-KRK, Art. 25 BremLV).

Die Umverteilung der Kinder und Jugendlichen gegen ihren Willen und unter Androhung und Anwendung von Zwangsmitteln zur Durchsetzung eines Verwaltungsaktes kann also nicht mit der Begründung des Schutzes des Kindeswohls gebilligt werden, denn diese Gewaltandrohung und -anwendung ist eine Gefährdung des Kindeswohls.

Das Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. (G1/17, 2017) stellt fest, dass die Anwendung von Zwangsmitteln gegen unbegleitete ausländische Jugendliche zur Durchsetzung einer Zuweisungsentscheidung nach § 42b Abs. 3 SGB VIII rechtswidrig ist.

Kein weiteres Bundesland wendet eine vergleichbare gewaltvolle Praxis an. Die Anwendung von Gewalt in der Jugendhilfe von geflüchteten Minderjährigen ist rechtswidrig, unverhältnismäßig und rassistische Diskriminierung. Sie verstößt gegen die wichtigsten Grundprinzipien der Jugendhilfe: Die Orientierung am Kindeswohl, die Beteiligung der Jugendlichen und der Schutz vor Gewaltanwendung.

Wir fordern von der Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration Dr. Claudia Schilling den Ausschluss von Gewalt sowie mittelbarem und unmittelbarem Zwang gegen Kinder und Jugendliche in der Verwaltungsanweisung zu § 42b Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 42b Abs. 3 Satz 1SGB VIII vom 09.01.2020 mit sofortiger Wirkung.

Die Missstände in der Unterbringung und Versorgung von bzw. dem Umgang mit Geflüchteten Minderjährigen bleiben nicht unbeachtet.

Fluchtraum Bremen e. V., der Förderverein Flüchtlingsrat Bremen e. V. und der Bremer Jugendring – Landesarbeitsgemeinschaft der Bremer Jugendverbände e. V. setzen sich mit den Unterstützer*innen für die unbegleiteten, geflüchteten Kinder und Jugendlichen ein. Wir sprechen uns konsequent gegen diskriminierende, gefährdende und rechtswidrige Praxen aus.

Gemeinsam fordern wir die Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration Dr. Claudia Schilling, den Senat, die zuständigen Ressorts und die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft auf, sich für die Rechte, den Schutz und das Wohlergehen der unbegleiteten geflüchteten Kinder und Jugendlichen bedingungslos und konsequent einzusetzen.

Wir erwarten einen qualitativen und finanziellen Ausbau der Jugendhilfe, eine kind- und jugendgerechte Unterbringung und Versorgung von schutzsuchenden Minderjährigen in Bremen und den Ausschluss von Fesselung und Gewalt in der Jugendhilfe.

Alle Beteiligten stehen jederzeit gerne für den weiteren Diskurs und Austausch über geeignete (Rahmen-) Bedingungen für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten bereit.


1 Siehe hierzu auch BumF (2022): Kindeswohl für alle Kinder und Jugendlichen sichern! Unterbringungssituation von UMF wird immer prekärer: Fachkräfte und UMF dürfen nicht alleine gelassen werden!