Pressemitteilung vom 20.04.2020
Senatorin Stahmann hält weiterhin am unverantwortlichen Betrieb der Massenunterkünfte fest und greift dafür zu einem Gastkommentar im Weser-Kurier. Damit gesteht sie bereits vorab ein, dass ihre nachfolgende Behauptung falsch ist: Die Forderung nach Schließung der Einrichtung kommt nicht von einer kleinen Gruppe, sondern von vielen verschiedenen Bewohner*innen, Mitarbeitenden und solidarischen Personen und Organisationen in der Stadt. Den Betroffenen ist es gelungen, auf ihre desaströse Situation aufmerksam zu machen. Es ist erheblich schwerer geworden, ihren skandalösen und rassistischen Ausschluss aus den Corona-Schutzmaßnahmen stillschweigend zur Normalität zu erklären.
„Statt von ihrer eigenen Verantwortung zu sprechen, leugnet die Senatorin die untragbaren Zustände in der Lindenstraße schlichtweg und verspricht gleichzeitig deren Verbesserung. Sie versucht, mit Gerüchten und Falschbehauptungen die fundierte Kritik zu diskreditieren und behauptet schließlich, die Massenunterkunft sei eine gute und notwendige Sache“, so Gundula Oerter vom Flüchtlingrat. „Das ist so bevormundend wie sachlich falsch.“
„Ankunftszentren“ wie die Lindenstraße haben erklärtermaßen nicht die angemessene kurzzeitige Unterbringung Geflüchteter zum Ziel, wie uns die Senatorin glauben machen will. Sie dienen der Abschreckung, der Greifbarkeit für Abschiebungen, zur Durchsetzung des Verteilungsregimes und zur dauerhaften Ausgrenzung. Wer sich daran nicht erinnern kann, möge die ablehnenden Stellungnahmen (u.a. der grünen Partei) zu den entsprechenden Änderungen des AsylG der letzten Jahre lesen.
„Die sachliche Kritik an den realen Zuständen in der Lindenstraße, also dass es unmöglich ist, Abstand einzuhalten, und die logischerweise daraus folgende Forderung nach Auflösung der Massenunterkunft bezeichnet die Senatorin als ‚ideologisch‘“, so Oerter weiter. „Damit verrät sie, was sie selbst für normal und pragmatisch hält: nämlich die im BMI ersonnene Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung gegen Geflüchtete auch im Corona-Ausnahmezustand durchzusetzen.“
Die Coronakrise brachte mit ihren verbindlichen Abstandsgeboten die sofortige Notwendigkeit und auch die rechtliche Möglichkeit mit sich, solche Massenunterkünfte aufzugeben. Das wurde geradezu sinnbildlich deutlich, als die Polizei Ende März Strafanzeigen gegen Bewohner*innen schrieb, weil diese angeblich *vor* dem Gebäude den Mindestabstand unterschritten, während sie gerade dafür demonstrierten, diesen Abstand *in* ihrer Unterkunft einhalten zu können. Das Sozialressort hat dies ignoriert und die Verbreitung des Virus im Gebäude sehenden Auges in Kauf genommen. Der vom eigenen Senat bei Strafandrohung vorgeschriebenen Schutz vor Verbreitung des Virus wurde bei der Organisation der Lindenstraße wochenlang ignoriert. Noch immer wird es als nur unbestimmtes Ziel für die Zukunft formuliert, mehr Abstand zu ermöglichen. Wegen dieser diskriminierenden Ungleichbehandlung haben wir Strafanzeige erstattet. Die staatsanwaltschaftliche Überprüfung bezeichnet die Senatorin als ‚psychischen Druck‘.
„Glaubt die Senatorin, dass sich nicht an die Verfügung halten muss, wer verlauten lässt, ‚verantwortungsbewusst und mit viel Engagement‘ zu handeln?“, fragt Oerter.
Anscheinend setzt sich die Senatorin sehr niedrige Maßstäbe weit unterhalb der Menschenwürde. Obwohl niemand die Verhältnisse in der Lindenstraße mit denen in Moria oder Libyen gleichgesetzt hat, hält Frau Stahmann die Unterschiede für ein Argument für die Lindenstraße. Damit folgt sie einer Stellungnahme des Landesvorstands und der Fraktion der Grünen vom 09.04., in der allen Ernstes behauptet wurde, man brauche die Lindenstraße, um Flüchtlinge aus Moria aufnehmen zu können. Das ist angesichts der bisher beschlossenen lächerlich geringen Aufnahmezahlen, der winzigen Quote Bremens daran, und angesichts der Tatsache, dass Geflüchtete mit der Aufnahme aus dem Ausland direkt eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, auf missbräuchliche Weise irreführend.
Die Senatorin behauptet ohne jeden Beleg, die Wirklichkeit in der Lindenstraße besser zu kennen als es Bilder und Videos der Bewohner*innen zeigen. Eines der Videos zeigt einen kleinen Raum, in dem sechs Betten stehen und die Wände nicht bis zur Decke reichen. Jede Person, die seit der Eröffnung 2016 im Gebäude war, weiß, dass dies keine Inszenierung, sondern die immer wieder kritisierte Realität ist. Erst nach den Protesten und der Veröffentlichung des Videos wurde die Belegung dieses Raumes von sechs auf immer noch drei Personen reduziert.
Die Senatorin behauptet, nur in der Lindenstraße seien Versorgung und Betreuung gewährleistet. Soll das heißen, in Bremen gäbe es außerhalb der Lindenstraße keine medizinische Versorgung und soziale Arbeit? Die Bewohner*innen haben eindrücklich beschrieben und dokumentiert, was es bedeutet, in einer beengten Massenunterkunft leben zu müssen: Keine Privatsphäre, stark eingeschränkte Selbstbestimmung, wenig Information, stark erhöhtes Ansteckungsrisiko, keine frische Luft, da die Fenster für sie nicht zu öffnen sind.
Wir haben den Gastkommentar von Frau Stahmann in mehrere Sprachen übersetzt. Die Reaktionen der Bewohner*innen sind eindeutig: „Frau Stahmann lebt nicht in unserer Realität. Sie lügt und verleugnet die Situation, für die sie letztlich die Verantwortung hat. Warum erwähnt sie nicht die vielen neuen Erkrankungen und Quarantäne-Flure, die gemeinsamen Toiletten für über 20 Menschen? Warum geht sie nicht auf die Kritik ein? Wir erwarten, dass sie zurücktritt!“, ist eine Reaktion darauf.
Die Diskrepanz zwischen sich zuspitzender Situation einerseits und senatorischer Beschwichtigung und Ignoranz andererseits führt zu verzweifelten Überlegungen: „Was können wir in dieser Situation noch tun? Einen Hungerstreik machen? Unsere Selbstverbrennung androhen? Unsere Lippen zunähen?“, fragt ein anderer Bewohner.
Die Aufnahme Geflüchteter ist dringend notwendig – die Massenunterkunft Lindenstraße ist es nicht. Sie muss geschlossen werden. Kein Mensch braucht die Lindenstraße.