Pressemitteilung vom 15.05.2020
Vor einer Woche hat ein Bewohner der Massenunterkunft Lindenstraße versucht, sich das Leben zu nehmen. Er wurde im Krankenhaus intensivmedizinisch behandelt und hat glücklicherweise überlebt. Der Flüchtlingsrat steht kontinuierlich in unterstützendem Kontakt mit dem Betroffenen.
Nun hat Milad G. (Name aus Datenschutzgründen geändert) sich entschieden, seine Erfahrungen zu veröffentlichen und über die Beweggründe für seinen Schritt sowie die Situation in der Lindenstraße zu sprechen. Im Folgenden ergreift Milad G. selbst das Wort:
„Ich habe den Iran wegen der Probleme, die ja den meisten bekannt sind, verlassen. Seit zwei Monaten bin ich nun in Deutschland – und davon habe ich vier Wochen in Quarantäne verbracht. Der psychische Druck, dem ich hier ausgesetzt war und die Umstände in der Lindenstraße, die sich immer weiter zuspitzten, haben dazu geführt, dass ich mir mein Leben nehmen wollte.“
„Ich wurde nach meiner Ankunft in vier Etappen getestet. Das erste Mal war der Test negativ, das zweite und dritte Mal auch, das vierte Mal hieß es, ich habe Covid-19. Dann haben sie mich in ein anderes Zimmer verlegt und gesagt, ich müsse 14 Tage in Quarantäne bleiben. Diese 14 Tage wurden nach und nach zu einem kompletten Monat in Quarantäne und die negativen Gedanken – die wurden immer stärker.“
„So viel Polizei, wie ich in der Lindenstraße gesehen habe, habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Die Polizei kam und ging, sie kamen in unsere Zimmer und taten, als wären wir die Mafia oder irgendwelche Verbrecher. Und dann hieß es: Geh‘ von diesem Zimmer in das andere Zimmer, geh‘ vom oberen Zimmer ins untere, komm‘ vom unteren wieder ins obere. Wir haben den Verantwortlichen des Camps so oft gesagt: Bitte, verringert die Anzahl der Bewohner*innen im Camp! Doch anstatt die Anzahl von uns zu verringern, haben sie die Anzahl der Securities erhöht.“
„Ihr habt dort 50, 60 Leute [pro Flur], die anscheinend Corona haben – und die lasst ihr in Räumen mit nur einer Sanitäranlage und die wird nur einmal am Tag geputzt?! Und mit diesem schrecklichen Essen, das meiner Ansicht nach keinerlei Vitamine hat – kein ordentliches Essen, kein ordentliches Trinkwasser! Schlechtes Essen kannst du mal eine Zeitlang aushalten, aber schlechte Hygienebedingungen kannst du einfach nicht aushalten. Stellen Sie sich mal vor: Sie sind erkrankt und zwar an einer Krankheit, die lebensgefährlich sein könnte. Und Sie haben gleichzeitig keine Symptome. Das alles setzt dich doch enorm unter Druck! Du stehst morgens auf, gehst ins Bad und stellst fest, alles ist absolut eklig. Ich habe einfach die ganze Zeit so viel psychischen Druck verspürt.“
„Wenn du alles in einem anderen Land hast, eine Wohnung, ein Auto, ein Leben, aber plötzlich gezwungen bist zu fliehen und du kommst in ein anderes Land, das man das hochentwickelte Deutschland nennt und dann siehst du in diesem Land solche Sachen – dann denkst du wirklich, du bist in der absoluten Einöde gelandet. Du kannst dir gar nicht vorstellen, dass das dieses hochentwickelte Deutschland sein soll! Und all das reicht für jemanden, der nicht total taff ist, um sich das Leben nehmen zu wollen.“
„Ich fordere von der Sozial- und der Gesundheitsbehörde, dass eine*r von ihnen kommt und nur einen Tag und eine Nacht in einem dieser Räume verbringt, die keine Zimmerdecke haben. Ich bin gespannt, ob diese Person diese eine Nacht hier überhaupt aushält!“
„Ja, wir sind Asylsuchende. Und trotzdem sind wir Menschen. Wir sind Individuen. Und wie man in unserer Sprache sagt, wir haben bei euch um Asyl gebeten, damit ihr uns helfen könnt – und nicht, damit ihr uns so quält. Ich glaube wirklich, dass es besser wäre, im Gefängnis zu sein als in der Lindenstraße, denn im Gefängnis, da weißt du wenigstens, dass du Gefangener bist. Die Lindenstraße ist kein Ort zum Leben. Gerade in dieser Situation, ist das kein Ort, an dem ein Mensch leben könnte.“
Wenn Sie Suizidgedanken haben, wenn es Ihnen nicht gut geht, bleiben Sie damit nicht allein. Suchen Sie sich Hilfe und Unterstützung bei Nahestehenden, im familären oder sozialen Umfeld oder wenden Sie sich an einen sozialpsychiatrischen Dienst oder eine Telefonhotline.