Das Leben der Anderen.
In Bremer Flüchtlingslagern werden Datenschutzbestimmungen rigoros unterwandert
7.15 Uhr: Frühstück. 8.23 Uhr: Verlassen der Unterkunft. 15.12 Uhr: Betreten der Unterkunft. 15.37 Uhr: Ausgabe Bettwäsche, 15.38 Uhr: Ausgabe Duschgel. 17.23 Uhr: Verlassen der Unterkunft. Anweisung: »Vor Verlassen bei Einrichtungsleitung melden.«
Die Software Bewohnerquartiersmanagement, die seit Januar 2016 in Bremer Flüchtlingslagern zum Einsatz kommt, soll laut Hersteller ein »vollumfassendes System für die Verwaltung von Flüchtlingsunterkünften« 1 bieten. Tatsächlich liefert die Software ein vollumfassendes System zur Überwachung der Bewohner* innen (und Mitarbeitenden) der eingebundenen Unterkünfte und unterwandert schamlos geltende Datenschutzbestimmungen. Im Auftrag der Bremer Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport wurde die Software im vergangenen Jahr nach und nach in diversen Notunterkünften und Übergangswohnheimen, wie auch in der Erstaufnahmestelle eingeführt. Die Bewohner*innen erhalten nun bei ihrer Registrierung in Bremen eine Chipkarte, auf die Name, Foto und Herkunftsland aufgedruckt sind und mit der sie sich beim Betreten und Verlassen der Unterkunft ein- bzw. ausloggen müssen. Ebenso wird die Waren- und Essensausgabe über die Karte verwaltet, minutiös protokolliert und gespeichert. Unterkunftsmitarbeiter*innen erhalten die »praktische« Gelegenheit, zum Beispiel bei der Essensausgabe personenspezifische »Anweisungen« für einzelne Bewohner*innen anzeigen zu lassen: »Vor Essensausgabe bei Einrichtungsleitung melden!« Den Berichten von Bewohner*innen zufolge, ist es zwar möglich, in Ausnahmefällen auch ohne die Karte Essen zu bekommen, aber nicht, ohne Karte die Unterkunft zu verlassen. Das könnte in der Konsequenz dazu führen, dass Menschen im Lager eingesperrt sind, weil das Personal zur Ausgabe neuer Chipkarten zum Beispiel schon Feierabend hat. Faktisch würde das einen rechtswidrigen Freiheitsentzug bedeuten.
1] www.quartiermanagement. info (11.1.2016)
Sag uns, wie du heisst, und wir sagen dir, was deine Schwester gestern zu Mittag gegessen hat.
Diese Daten werden (unter anderem) in der Softwaredatenbank erfasst + gespeichert:
_ Name _ ID-Nummer _ Foto _ Geschlecht _ Raum- bzw. Bettennummer _ Geburtsdatum & -ort _ Herkunftsland _ »Volks«- und Religionszugehörigkeit _ »Besondere Kennzeichen« (Schwangerschaft, »Behinderungen«, Diabetes-Erkrankung, »Ramadan Verpflegung«, umF) _ Datum der Teilnahme an der Erstuntersuchung nach §62 AsylG _ Stuhluntersuchung _ Impfstatus _ Verwandtschaftsverhältnisse inklusive Erfassung eines »Familien oberhauptes« _ Status des Asylverfahrens _ erfolgte / laufende / anstehende Schritte im Asylverfahren _ einbehaltene Unterlagen _ Ankunftsnachweis _ EASY-Optionierung _ polizeiliche Erfassung _ Taschengeldregelsatz _ Kostenübernahmezeitraum _ personenspezifische Zugangs- oder Ausgangssperre
Kontrollstaat statt Selbstbestimmung
Zusätzlich zu den sogenannten Aktionen werden in der Datenbank Unmengen an hoch sensiblen Daten manuell eingegeben oder aus Datenbeständen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge abgerufen und gespeichert (siehe Kasten). Insgesamt können somit umfassende Personenprofile und Aktivitätenprotokolle der Bewohner*innen über mehrere Tage erstellt werden. Besonders problematisch ist, dass die Zugriffsrechte für diese Daten nicht streng genug geregelt sind, um einen Missbrauch der angehäuften Informationen wirksam zu verhindern. Es ist keinesfalls sichergestellt, dass beispielsweise unbefugte Mitarbeitende Einblick in die Datensätze erhalten und ihr Wissen als Druckmittel gegen die Schutzsuchenden einsetzen oder gar an Externe weitergeben. Was passiert, wenn ausländische Geheimdienste ihr Interesse an den Datenbanken entdecken? In einem dem Flüchtlingsrat vorliegenden Brief an die Bremer Sozialsenatorin äußert die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit hinsichtlich des Verfahrens »erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken« und befürchtet eine »lückenlose Überwachung«, die einen »erheblichen Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht darstellen würde«. Die offizielle Begründung von Seiten der Behörde für den Einsatz der Software proklamiert dagegen eine Verbesserung der Sicherheit in den Unterkünften sowie der »Verwaltung der verschiedenen Unterkünfte im Asylbereich« und sieht den Datenschutz nicht beeinträchtigt.
Doch diese Argumentation ist fadenscheinig. Zum Einen war es bereits zuvor durch Belegungslisten möglich, aktuelle Materialbedarfe abzuschätzen. Zum Anderen, und das ist viel wesentlicher, können verwaltungstechnische Interessen keinesfalls einen derart umfassenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen. Dieses Recht ist unter anderem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 8) verankert. Es soll absichern, dass personenbezogene Daten nur »für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person« erhoben werden. Das Konzept für die Software- Nutzung stellt aber keine klaren Zwecke vor. Und dass die Betroffenen über den Umfang der Datenerfassung und ihre Datenschutzrechte informiert werden, ist unwahrscheinlich. Insbesondere in Anbetracht der besonders starken Abhängigkeit der Geflüchteten von Unterkunftsleitung und Behörden kann von freiwilligem Einverständnis ohnehin nicht die Rede sein. Auf Anfrage der Linksfraktion in der Bremer Bürgerschaft im Spätsommer 2016 erklärte Staatsrat Jan Fries sogar offen, dass die Bewohner*innen keine Möglichkeit hätten, die Benutzung der Chipkarte abzulehnen. Die aufenthaltsrechtliche Notlage der Geflüchteten wird so ausgenutzt, um eine flächendeckende Kontrolle der Schutzsuchenden ohne Gegenwehr durchzusetzen.
Es ist sogar denkbar, dass zukünftig eine durch die Software dokumentierte Abwesenheit in der Unterkunft mit «fehlender Mitwirkungspflicht « oder gar «Rücknahme des Asylantrags« gleichgesetzt werden kann. Auch die automatisierte Neubelegung von Zimmern, deren Bewohner* innen das Lager für ein paar Tage verlassen, ist zu befürchten. Das wäre besonders zynisch unter dem Aspekt, dass unter anderem aufgrund der desolaten Wohnungsmarktsituation in Bremen die Lager für viele Schutzsuchende über Jahre hinweg das einzige Zuhause sein könnten, was sie hier haben.
Profitmaximierung statt Persönlichkeitsrechte
Während also die Persönlichkeitsrechte der Bewohner*innen – im Gegensatz zu ihren Aktivitätenprotokollen – quasi ausradiert werden, freut sich der Hersteller der Software cevisio GmbH & Co. KG über den Erfolg: In einem Werbeprospekt zum Programm brüstet er sich damit, das Verfahren in über 280 Aufnahmeeinrichtungen und »diversen« Bundesländern installiert zu haben. Die Bremer Variante kommt beispielsweise zeitgleich und »in enger Abstimmung« auch in Hamburg und Schleswig-Holstein zum Einsatz. 380.000 Flüchtlinge seien bereits mit der Software »verwaltet« worden. 380.000 »Flüchtlinge« (Menschen!), 380.000 Datensätze – wie viel das wohl umgerechnet als Profit in Euro bedeutet? Es muss ein lohnenswertes Geschäft sein, denn cevisio ist nicht die einzige Anbieterin auf dem Markt. Regionale und internationale Firmen, Quereinsteiger*innen und Start-Ups konkurrieren im Internet darum, wer den Kommunen die umfassenderen Datensammlungen, das am schönsten verpackte Big-Brother-Programm bietet. Gibt es einen ähnlich florierenden Markt für das »Management« von Senior*innenresidenzen und Kindergärten? Wird es ihn vielleicht in naher Zukunft geben?
»Es sind doch nur Daten!«?
Es ist schlichtweg naiv, die Überwachung, die hier staatlich toleriert und forciert wird, als Lappalie abzutun. Klammheimlich und konsequent werden Grundrechte missachtet und Menschen ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen massiv kontrolliert. Menschen, wohlgemerkt, die auf der Suche nach und mit dem Recht auf Schutz nach Deutschland kamen. Und die hier aufgrund kapitalistischer Interessen und latentem Rassismus in Containern und Zelten statt in privaten Wohnungen leben müssen. Das, was von ihrer Privatsphäre in diesen Massenunterkünften noch übrig war, wird mit der Software vollends zerstört. Die Praxis des Bewohnerquartiersmanagements ist inakzeptabel und sollte unverzüglich eingestellt werden.
Der Artikel ist im April 2017 auch im Logbuch erschienen – dem Magazin des Flüchtlingsrat Bremen.
Hier eine Stellungnahme der Landesdatenschutzbeauftragten Bremen (Punkt 8.9.): Bericht.